Lost And Found (Roadtracks #42)

 

Günter Ramsauer – Das Leben als Mixtape

 

Das war schon lange überfällig. Da haben wir einen langjährig musikjournalistisch tätigen Kollegen in unseren Reihen, der auch als Buchautor tätig ist und wir haben es versäumt, auf Spurensuche zu gehen und die Hinter- und Beweggründe seines Handelns aufzudecken. Aber dafür ist LOST AND FOUND ja da. Grade ist sein zweites Buch erschienen und wir nehmen das zum Anlass, seinen Werdegang aufzudecken.

Günter, spulen wir zurück zum Anfang. Wie hast Du als Kind Musik aufgenommen und erlebt? Wurde bei Dir zuhause musiziert oder haben Dich Deine Freunde musikalisch beeinflusst?

„Zuhause musiziert wurde bei uns nicht, dafür durfte ich in meiner Kindheit dem deutschen Schlager der 50er und 60er Jahre lauschen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Vater am Wochenende mit dem Cassetten-Recorder vom Radio die neuesten Hits aufnahm, denn Vinyl-Singles und Langspielplatten waren nur in Ausnahmefällen mit dem Haushalts-Budget zu bestreiten. Obwohl niemand ein Instrument spielte, wünschte ich mir als Kind von sechs oder sieben Jahren eine kleine Gitarre, auf die ich dann eindrosch und Schlager vor der Verwandtschaft sang. Wenn ich daran heute zurückdenke amüsiert mich das sehr, denn ich trug bei meinen ‚Auftritten‘ kurze Lederhosen und einen Tirolerhut. Mein damaliger Favorit war „Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“ von Billy Mo. Mit etwa zwölf Jahren entdeckte ich schließlich den Hard-Rock und meine erste selbst gekaufte Vinyl-LP war „Deep Purple In Rock“, es folgten Uriah Heep, Black Sabbath usw. sowie einige Krautrock-Platten. Mit 15 Jahren lernte ich dann zwei Freunde kennen, mit denen ich bis heute in Kontakt geblieben bin. Von ihnen wurde ich ganz entscheidend musikalisch sozialisiert. Sie machten mich mit Bob Dylan, Neil Young, Van Morrison, Grateful Dead, The Allman Brothers Band und vielen anderen bekannt. Ich begann dann Dylan-Songs auswendig zu lernen, kaufte mir Gitarre und Blues Harp und spielte mehr schlecht als recht Dylan-Songs nach. Bis heute ist Bob Dylan mein favorisierter Künstler geblieben.“

Du hast Dir ein riesiges Spektrum an musikalischen Vorlieben angeeignet. Durch welches Ereignis oder welchen Künstler wurde Dir bewusst, dass Du hinter die Fassaden blicken wolltest und das Musik eine wichtige Rolle in Deinem Leben einnehmen soll?

„Beides trifft zu, es waren sowohl Ereignisse als auch Künstler. In der Pubertät sah ich im TV wie Eric Burdon & War „Tobacco Road“ performten, da war ich sozusagen angefixt. Wie dann Bob Dylan Lyrics und Musik verknüpfte ließ mich aufhorchen und dass seine Texte auch ohne Musik im Stande waren, diese unglaubliche poetische Kraft zu entfalten. Ende der 70er, Anfang der 80er war es Punk und New Wave, die innere und äußere Veränderungen nach sich zogen. Vor allem setzten sie bei mir frei, dass Musik auch in roher und einfacher Form funktioniert. Damals herrschte das Denken vor, dass nur Musiker, die Noten spielen können und technisch versiert sind, eine Daseinsberechtigung haben. Punk hat damit aufgeräumt. Und mich ermutigt erste Plattenkritiken zu verfassen, das war plötzlich möglich, an allen Ecken und Enden tauchten die sogenannten Fanzines auf. Punk und New Wave haben in mir eine unheimliche Energie freigesetzt, die Luft brannte damals förmlich, sogar in der schwäbischen Provinz. Die Fassaden, die Du ansprichst, waren sozusagen am Bröckeln und der Blick wurde freier. Jeder konnte es nun wagen dahinter zu blicken, jedoch: ‚Many are called, but few get up‘, um die guten alten Man zu zitieren. Im Nachhinein glaube ich, dass es ein Vorteil war, der sogenannten 78er Generation anzugehören. Die Strömungen der Hippies waren noch greif- und spürbar und die Punk/New Wave Explosion traf voll ins Bewusstsein der damals um die 20 Jahre alten Generation. Dadurch war es möglich in viele musikalische Richtungen zu blicken und sein Spektrum nach und nach zu erweitern.“

Punk und New Wave haben neuen Schwung in die Musiklandschaft gebracht. In den oft verpönten 80er Jahren haben dann aber Drum-Computer und sinnentleerte Texte Einzug in die Charts gehalten und viele hochangesehene Künstler haben in dieser Phase ihre schwächsten Alben veröffentlicht. Wie hast Du die 80er Jahre erlebt? Konntest Du die beschriebene Entwicklung nachvollziehen oder hast Du Dir neue Musikstile erschlossen?

„Ich fand die 80er gar nicht so schlecht wie sie immer gemacht werden. In „Songs To Remember“ halte ich ein Plädoyer für das Jahrzehnt und liste am Ende 100 Gründe (Platten) auf, die 80er zu lieben. Natürlich war damals in den Charts fast nur noch Blödsinn zu finden, dagegen war die Underground-, Alternative- und Independent-Szene in voller Blüte, außerdem fielen die ersten Americana-Vorboten in dieses Jahrzehnt. Meine alten Helden Bob Dylan, Neil Young und Van Morrison enttäuschten mich, wobei die Zeit hier Wunden geheilt hat und mein jetziges Wiederhören der 80er Dylan-Platten nicht alle, aber einige Songs rehabilitiert hat. Außerdem waren die 80er das Jahrzehnt von Nick Cave, der eine unglaubliche Entwicklung genommen hat und für mich einen neuen Singer/Songwriter-Stil kreiert hat. Und Interpreten wie The Go-Betweens, Lloyd Cole & The Commotions, The Smiths, Prefab Sprout, Violent Femmes und viele andere sorgten für frischen Wind und hinterließen nachhaltige Spuren. Nicht zu vergessen Richard & Linda Thompson, Elvis Costello und Marianne Faithfull, die meiner Meinung nach die 80er entscheidend mitgeprägt haben. An neuen Stilen fand ich No Wave und Post-Punk interessant, wobei man sich hier die Rosinen herauspicken musste.“

Deine Ausführungen bringen mich zu einer grundsätzlichen Frage: Was muss Musik (ein Song, ein Künstler) haben, damit der Funke bei Dir überspringt? Wie trennst Du die Spreu vom Weizen? Gibt es überhaupt objektive Kriterien, die Qualität von Musik zu messen oder ist am Ende doch alles nur „Geschmackssache“?

„Gute Frage! Gleichzeitig auch eine schwer zu beantwortende. Für mich muss der Musik ein Zauber, eine Magie innewohnen oder mich innerlich aufwühlen. Oder sie muss mich in Bewegung bringen, etwas in mir auslösen. Das kann eine hart rockende Punkplatte, ein poetisches Singer/Songwriter-Album, Sweet Soul oder Rocksteady Music sein. Dabei kann es passieren, dass bestimmte Platten nur für den Moment gut sind, andere scheinen wie gemacht für die Ewigkeit. Ob das ganze messbar ist? Natürlich lassen sich bestimmte – mehr oder weniger objektive – Maßstäbe anlegen, letztlich ist entscheidend, wie sehr einen die Musik berührt. Ich würde mich als emotionalen Hörer bezeichnen, wenn keine Emotion – welche auch immer – bei mir ankommt, kann ich mit der Musik nichts anfangen.“

Lass mich noch eine Einschätzungsfrage nachschieben: Kann Musik die Welt oder das Individuum ändern? Was hälst Du davon, wenn Lieder Botschaften vermitteln? Wie wichtig sind Texte heute überhaupt noch?

„Ich finde Texte nach wie vor wichtig, obwohl die meisten Sachen, die ich höre in Englisch sind und allem kann ich, was die Lyrics betrifft, nicht nachgehen. Dennoch glaube ich, dass Texte nicht alleine über das bloße Verstehen wahrgenommen werden, sondern auf einer tieferen Bewusstseinsebene. Selbst ein in Chinesisch gesungenes Lied kann so „verstanden“ oder besser „erfühlt“ werden. Die Botschaft wird somit über die Verbindung Musik-Text transportiert. Von plakativen Botschaften oder dem allzu offensichtlichen Protestsong halte ich allerdings nichts. Bob Dylan – sorry, wenn ich immer wieder auf ihn zurückkomme – hat sehr früh erkannt, dass man mit dem bloßen Protestsong in eine Falle tappt, obwohl ich seine frühen Aufnahmen, seine sogenannten Protestsongs liebe, weil er es verstanden hat, ihnen mit seiner Stimme Emotion und Leben einzuhauchen. Ob Musik Welt und Individuum verändern kann? In einer gewissen Weise würde ich dem zustimmen. Ich glaube aber nicht, dass ein US-Soldat nach einem Antikriegs-Lied seine Waffe niederlegen wird, einen Denkanstoß kann es ihm dagegen geben, es hängt natürlich auch vom Typ, von der Bereitschaft des Soldaten ab. Im Kleinen können Songs das Individuum durchaus verändern. Musik kann einen in eine völlig andere Stimmung tauchen als die vorige, das kann jetzt jeder für sich als kleine oder große Veränderung ansehen. Für mich ist Musik so wichtig wie die Luft zum Atmen!“

Die Wichtigkeit der Musik in Deinem Leben lässt sich auch in der Deiner Biographie ablesen. Seit Anfang der 80er Jahre bist Du journalistisch tätig. Die 90er Jahre halten einige Überraschungen in Deinem Lebenslauf bereit. Du hast die Vorlage zu einem Super 8 Film geliefert und einen Roman geschrieben, der nicht veröffentlicht wurde. Wie kam es dazu und warum liegt der Roman auf Eis?

„In den 80ern bin ich eigentlich eher vom Schreiben über die Musik abgekommen, das Fanzine für das ich geschrieben habe, war nach einigen Nummern am Ende. Ich veröffentlichte einige Gedichte und Geschichten in kleinen Verlagen, das hat mich damals mehr interessiert. Die Musikszene habe ich dennoch mit großem Interesse weiterverfolgt. Die Vorlage für den Super 8 Film war eine Kurzgeschichte, die unveröffentlicht geblieben ist, aber bei einigen Menschen auf Interesse gestoßen ist, die damals in der Stuttgarter Filmszene involviert waren und so kam es zu dem kleinen Filmchen, das wiederum eine Rolle in meinem neuen Buch „Songs To Remember“ spielt, ebenso wie der unveröffentlichte Roman. Ich hatte ihn damals ausschließlich an große Verlage geschickt, die alle ohne Begründung ablehnten. Der Roman entstand im Zeichen der von mir damals geschätzten Pop-Literatur und dem von mir verehrten Thomas Bernhard, mit dem ich mich natürlich nicht messen kann. Musik spielt darin auch eine große Rolle, ich versuchte gar den Rhythmus von „Sister Ray“ (The Velvet Underground) damit einzufangen, ob mir das allerdings gelungen ist, wage ich zu bezweifeln. (Ich muss grinsen). Ich müsste den Roman eigentlich mal wieder lesen um zu sehen ob der vor meinem eigenen Urteil im Hier und Heute bestehen könnte, da bin ich mir ziemlich unsicher.“

Das Konzept zu Deinem ersten Buch hört sich sehr vielversprechend an. Dein erstes veröffentlichtes Buch „Das Insel-Alben-Buch, 100 Highlights der Pop-Musik-Kultur 1961-2002“ von 2004 geht aber wohl eher in eine andere Richtung. Ich würde das Prinzip als Infotainment bezeichnen. Beschreibe doch mal, welche Idee dahintersteckt und nach welchen Kriterien Du Deine sicher umfangreiche Sammlung gesichtet hast, um 100 Referenzwerke auszuwählen?

„Mit Infotainment ist das trefflich formuliert! Die Idee war natürlich, meine 100 Favoriten zusammenzustellen und dabei auf lockere Art meine Begeisterung an den Leser/Hörer zu vermitteln. Die Auswahl fiel nicht leicht, meine Sammlung ist in der Tat sehr umfangreich und schnell hatte ich mehr als 150 Alben ausgewählt und es ist mir unheimlich schwer gefallen viele nicht berücksichtigen zu können, zumal es auch immer von der jeweiligen Tageslaune abhängt und ich an dem Buch fast zwei Jahre gearbeitet habe. Somit fiel immer mal die eine raus und die andere rein usw. Die Kriterien waren: Nur ein Album eines Interpreten, keines vor 1960 und das Ende auf 2002 fixiert, weil ich 2004 die Langzeitwirkung miteinfließen lassen wollte. Wichtig war mir auch, unbekannte Künstler, sogenannte Alternativen, Independents und Außenseiter mit ins Buch zu nehmen, weil sie in meinem Musikuniversum eine große Rolle spielen und sie ansonsten fast nie in solche Bücher bzw. Listen mitaufgenommen werden. Dabei müssen sich The Dream Syndicate, Lambchop oder M.Hederos & M.Hellberg keineswegs hinter den üblichen Verdächtigen verstecken.“

Gib doch mal ein Beispiel dafür: Welches Album, das nach 2002 erschienen ist, würdest Du nach heutigem Stand warum in einer Fortsetzung aufnehmen?

„Da gibt es natürlich wieder jede Menge: Cat Power, Simon Joyner, Nick Waterhouse, Michael Kiwanuka, The Wave Pictures und The Great Crusades wären unter den Kandidaten. Ich wähle mal ganz spontan von den Great Crusades „Four Thirty“ aus, weil es eine unglaubliche Trash-Rock’n’Roll Energie und die Geister von John Lee Hooker und Captain Beefheart transportiert. Immer noch unterschätzt diese Vierer-Bande aus Chicago.“

In diesem Zusammenhang: Welchen Musikern, die erstmalig ab dem neuen Jahrtausend veröffentlicht haben, traust Du zu, zu Klassikern der Pop-Geschichte zu reifen?

„Da bleiben von den oben Genannten Nick Waterhouse, Michael Kiwanuka und The Wave Pictuers übrig. Hinzu kommen Bill Callahan, Hobotalk, Hiss Golden Messenger, The Deep Dark Woods, Laura Marling und Josh T. Pearson.”

Kommen wir zu Deinem neuen Buch „Songs To Remember, Geschichten aus der Zwischenwelt im Delta der Fußnoten, Vol. 1“. Hier kombinierst Du in Kurzgeschichten Erdachtes und Erlebtes. Als Basis dienen Dir Songs, deren Inhalte Du mit den Erzählungen verbindest. Wie kam es zu dieser Idee? Magst Du verraten, wie viel Prozent Erlebtes in den Geschichten steckt?

„Nach dem „Insel-Alben-Buch“ dachte ich, dass nun ein Buch mit meinen favorisierten Songs folgerichtig wäre. Darauf hin begann ich etwa drei Titel auszuwählen und stellte fest, dass diese mit vielen Erinnerungen einhergehen. So entstand ein völlig neues Konzept und die Songtexte integrierten bzw. verknüpften sich manchmal wie von selbst mit den Geschichten. Es ging nun gar nicht mehr um favorisierte Songs, sondern um solche, die mit Ereignissen und Erinnerungen verbunden sind. Plötzlich stand die Idee Pop-Literatur mit Pop-Journalismus zu kreuzen im Raum, eine Idee, die mich reizte und herausforderte. Die Basis der Geschichten beruht immer auf tatsächlich Erlebtem, wobei alleine schon die Erinnerung verfälscht bzw. trügerisch ist oder nur verschwommen daherkommt. Als sich dann beim Schreiben eine Art Flow einstellte, kam quasi von ganz alleine das Erdachte und das Fiktive ins Spiel. Dies nun in Prozenten auszudrücken fällt nicht leicht, weil es von Geschichte zu Geschichte variiert. Ich versuche es mal anhand von zwei Geschichten: „Blut auf dem Film-Skript“ hat ca. 80% Wahrheitsgehalt, „Das Mixtape und die Mädchen“ dagegen etwa 40%.“

Wem würdest Du die Lektüre des Buches empfehlen? Transportierst Du eigentlich eine Botschaft mit dem Inhalt?

„Ich würde das Buch allen Musikliebhabern und Menschen, die etwas für Pop-Literatur übrig haben, empfehlen. Aber auch Andere können dem Buch etwas abgewinnen, so war bspw. die Lektorin des Buches zunächst skeptisch, weil sie weder zu der einen noch der anderen Gruppe gehört. Sie fand es dennoch interessant und lesenswert, weil die  Geschichten auch lebensnahe Inhalte transportieren. Mit der Absicht eine Botschaft zu vermitteln, habe ich das Buch nicht geschrieben, ich denke, es stecken dennoch einige indirekte Botschaften mit drin. Auf einen Nenner gebracht: Die Kraft der Musik und deren Einfluss aufs wirkliche Leben und umgekehrt, das würde ich im Nachhinein als Botschaft oder auch als Kern von „Songs To Remember“ sehen.“

 

Heino Walter im Interview mit Günter Ramsauer